(Cyber-)Stalking verstehen & abgrenzen

Interview
Fragst du dich, was Stalking – und was Cyberstalking ist? Bist du dir unsicher, ab wann (alltägliche) Handlungen Stalking sind? Oder möchtest du wissen, wer überhaupt hiervon betroffen ist? In diesem Interview mit Sandra Cegla, Kriminalkommissarin a. D. und Gründerin von SOS-Stalking, werden dir diese und weitere Fragen rund um Stalking beantwortet.
In diesem Gespräch werden Täter:innen oft in männlicher und Betroffene in weiblicher Form angesprochen. Trotzdem gilt: Jedes Geschlecht kann sowohl Täter:in, als auch Opfer sein – alle Kombinationen sind möglich.

Kannst du zu Beginn einmal erzählen, wie du überhaupt zu diesem sehr speziellen Thema gekommen bist?

Ja, also ich erzähle dir sehr gerne, wie ich zu dem Thema gekommen bin. Ich habe insgesamt 14 Jahre bei der Berliner Kriminalpolizei verbracht. Ich habe dort Ermittlungen geführt und besonders im Bereich Schwere Gewaltdelikte meine Ermittlungen geführt. Das heißt also, da ging es um gefährliche Körperverletzung, schwere Körperverletzung bis hin zum versuchten Mord und Totschlag tatsächlich. Und das, worauf ich mich besonders spezialisiert habe, war dann das Thema Häusliche Gewalt. Und im Rahmen der Trennungsgewalt ist ja sehr, sehr häufig dann auch Stalking aufgetreten. Und mir ist relativ bald aufgefallen, gerade dann, wenn ich mit sehr schwerer Gewalt zu tun hatte, also mit einem versuchten Mord oder Totschlag, wo eine Betroffene wirklich ganz schwere Gewalt erlebt hat und es aber gleichzeitig überlebt hat, also mit mir noch ganz viel sprechen konnte, ist mir aufgefallen, dass zumindest kriminalpsychologisch in ganz, ganz vielen Fällen vorher Stalking stattgefunden hat. Und das hat mich hellhörig gemacht. Und mir ist dann gleichzeitig aufgefallen, wenn ich in den Gerichtsverfahren gesessen habe und dort auch als Kriminalbeamtin, als Zeugin ausgesagt habe, dass da aber das Stalking keine Rolle gespielt hat. Also, weder vom Delikt her noch allgemein. Für mich als Ermittlerin war es immer wichtig, weil ich ja die Hintergründe verstehen wollte und auch musste, um dann eben meine Ermittlungen richtig führen zu können. Und da habe ich zum allerersten Mal gemerkt „Moment mal, ich glaube, der Zusammenhang zwischen Stalking und Tötung, der ist auf jeden Fall größer als wir wissen.” Weil das Thema Stalking ist nicht in den Statistiken aufgetaucht und das hat eben, wie gesagt, bei Gericht auch selten eine Rolle gespielt. Aber für mich als Ermittlerin immer. Und dann, wie das eben so ist, wenn einem einmal was auffällt, dann sieht man es ja permanent jeden Tag. Und so war das dann auch in meinen weiteren Ermittlungen, dass es mir immer wieder in einzelnen Akten aufgefallen ist. Ich habe mich ja dann auch während meines Dienstes auf das Thema spezialisiert, weil ich eben auch gemerkt habe, wie groß der Spagat ist zwischen „Da steht jemand einfach nur vor meiner Tür und macht eigentlich noch nichts, ich fühle mich aber sehr bedroht” und die Polizei, also ich, konnte damals noch nicht viel machen. Und ich habe aber gleichzeitig jeden Tag gesehen, wo es hinführen kann, nämlich zum versuchten Mord. Und das war dann auch so ein Spannungsverhältnis, was für mich immer schwerer auszuhalten war, weil ich einfach den Frauen sehr viel mehr helfen wollte, als ich konnte, gleichzeitig wusste, wie gefährlich das ist. Das war dann der Grund, dass ich gesagt habe, erstens interessiert mich das Thema so sehr, weil der Leidensdruck der Betroffenen so groß ist und weil es so gefährlich ist, gesellschaftlich aber immer noch ziemlich unerkannt in seiner ganzen Brisanz. Wir haben wenig Möglichkeiten, um richtig gut einzugreifen, also wir haben wenig Lösungen, auch auf gesellschaftlicher Ebene. Und das war dann auch so die Initialzündung, zu überlegen „Okay, wie kann ich für das Thema noch mehr Hilfe anbieten und mehr Mehrwert stiften?” – besonders für die Betroffenen und irgendwie auch gesellschaftlich was bewegen, weil das Thema einfach viel zu wichtig ist für uns als ganze Gesellschaft. Ja, und das war dann der Grund zu sagen, so, jetzt gehe ich aus meinem Beamtenstatus raus, ich kann hier als Beamtin nicht das bewegen, was ich bewegen möchte, sondern das mache ich jetzt in meiner Sicherheitsagentur SOS-Stalking und da können wir jetzt doch nochmal sehr viel besser helfen.

Kannst du einmal erklären, was Stalking überhaupt ist?

Ja, sehr gerne. Also, wenn wir es ganz objektiv betrachten, beginnt Stalking immer dann, wenn eine Person zu einer anderen Person den Kontakt abbricht und sagt „Ich möchte mit dir keinen Kontakt mehr haben” oder „Bitte unterlasse das, ständig an mich heranzutreten.” Und diese andere Person ignoriert das und ruft immer wieder an, steht vor der Tür, kontaktiert dritte Personen, das eigene Umfeld und so weiter. Spielt also weiterhin in meinem Leben eine Rolle, ohne das ich das möchte. Und wenn das dann anfängt, mich selbst zu belasten und meine Lebensführung zu beeinträchtigen oder mir sogar wirklich massiven Schaden zufügt im monetären Sinne, also dass ich wirklich Geld verliere dadurch, dass ich mein Ansehen verliere, dass ich meine Gesundheit verliere, dann ist das auf jeden Fall Stalking. Im kriminalpsychologischen Sinne fängt es meistens oder manchmal sogar schon viel früher an, aber da können wir bestimmt später noch darauf eingehen.

Bei der Recherche sind uns die Begriffe aktives und passives Stalking begegnet. Beschreibt das schon die Bandbreite, die Stalking-Handlungen haben können?

Es gibt auf jeden Fall den Stalker oder die Stalkerin, der mehr im Hintergrund agiert und auch unerkannt bleiben möchte, der sich dann aber total ins Fäustchen lacht, die Betroffene zu beobachten, zu sehen, wie er sie in Angst und Schrecken versetzt und was es mit ihr macht. Und die beobachten das dann natürlich gerne aus der Ferne und ziehen da auch wahnsinnig viel Machtgefühl daraus. Und dann gibt es natürlich den aktiven Stalker, der sehr massiv und aggressiv auftritt und der sich ganz klar auch zeigt. Der zeigt sich, der will es auch und er sagt auch ganz klar, was er will. Und das ist auch der, der tendenziell zu Gewalt bereit ist und sie öfter auch anwendet und ganz klar auch Drohungen ausspricht. Und der passive Stalker, der kann auch, das hatten wir ja im Fall Sophie der Flugbegleiterin beispielsweise, die irgendwann von ihrem Stalker getötet wurde. Hier wussten wir ja gar nicht, wer der Täter ist. Über Jahre hinweg wusste sie das nicht und er hat aber trotzdem am Ende zu einer schweren Gewalttat angesetzt. Also ja, diese beiden Vorgehensweisen gibt es und beide können sehr gefährlich sein.

Also, können die Übergänge auch fließend sein?

Ja. Und Stalking, das müssen wir auch wissen, das ist nie einfach so in Stein gemeißelt oder irgendetwas Festes, sondern Stalking ist immer ein dynamischer Prozess. Das ist quasi wie eine ganz, ganz ungesunde Bindung, die auch Interaktion besitzt, die irgendwo anfängt und einen Verlauf hat. Das heißt, innerhalb dieses Verlaufes kann es sich in alle Richtungen entwickeln.

Wo beginnt Stalking denn – ist es schon Stalking, wenn ich eine Person gezielt bei der Kaffeemaschine abpasse oder mir sie länger auf Social Media genauer ansehe?

Sehr, sehr gute Frage. Damit beschäftigen sich viele. Besonders Menschen, die Liebeskummer haben, neigen ja dazu, ganz viel an der begehrten Person dran zu bleiben. Und gerade Frauen reflektieren sich meistens sehr gut und haben dann irgendwie das Gefühl „Oh mein Gott, ist das jetzt schon eine Grenzüberschreitung?” Da kann ich aber ganz klar sagen: „Nein, da fängt Stalking noch nicht an.” Stalking fängt wirklich immer erst dann an, wenn es auch bei der anderen Person ins Leben eingreift und deren Lebensqualität auch irgendwie verändert. Also, es muss schon wirklich so eine Art Leidensdruck bei der betroffenen Person da sein. Und Social Media beispielsweise, das hat überhaupt nichts mit Stalking zu tun. Alles, was Menschen freiwillig von sich preisgeben, das ist total frei zugänglich und das darf sich jeder anschauen. Und gerade Social Media ist dafür da, dass man sich das anschaut. Wenn ich jetzt aber mir extra ein Fake-Profil anlege in einer falschen Identität und dann irgendwelche Informationen ausspähe vom Umfeld, von der Betroffenen selbst, die sie normalerweise nicht preisgegeben hätte, wenn sie gewusst hätte, dass ich es bin, dann fängt Stalking an. Das heißt, hier fange ich an zu manipulieren und mir Informationen anzueignen, die mir eigentlich nicht gehören oder die ich in dem Sinne nicht haben darf. Und auch dieses “mal kurz abpassen an der Kaffeemaschine” oder so, das ist alles nicht schlimm. Im Bereich Stalking haben wir es natürlich damit zu tun, dass es ein Phänomen ist, was eben nicht eine ganz klar umrissene Tathandlung hat. Und das ist auch das Schwierige, weswegen wir uns genau mit dieser Frage beschäftigen müssen: Wo fängt es denn eigentlich an, wo hört es auf, ab wann ist es denn Stalking und wo eigentlich nicht? Wir haben nämlich genau die Schwierigkeit, dass wir sagen, es gibt keine einzige unverwechselbare Handlung. Wie beispielsweise bei der Körperverletzung. Jemand hat ein blaues Auge, jemand anders hat es verursacht, kann also nur eine Körperverletzung sein. Mord, Totschlag, eine Person ist tot, hat ein Messer im Rücken, kann nur Mord oder Totschlag gewesen sein. Eindeutig. Das haben wir bei Stalking nicht. Hier haben wir ganz viele Alltagshandlungen im Grunde, die einzeln für sich genommen überhaupt nicht unter Strafe stehen. Und wenn die in einer gewissen Art und Weise aneinandergereiht sind, dann haben wir erst Stalking. Und das ist natürlich genau dieser fließende Prozess, dass man sich viele Faktoren anschauen muss, jeden Einzelfall, weil jeder Stalker handelt ja auch ganz anders. Und sich dann anzuschauen, okay, es sind eigentlich Alltagshandlungen, die nicht unter Strafe stehen. Jemand anzurufen ist nicht strafbar. Bei Social Media einen Chat anzufangen ist nicht strafbar. Also, das ist alles einfach nicht strafbar, das dürfen wir. Nur wenn es eben so häufig ist und wenn die andere Person klar gesagt hat: „Hör auf, ich will das nicht”, und wenn ich dann anfange aber massiv zu werden, anfange zu drohen und das über einen gewissen Zeitraum geht und die andere Person dann wirklich schon belastet ist, dann sprechen wir eben von Stalking.

Ist das im Prinzip so ähnlich wie bei Mobbing, also dass die Summe der Handlungen zählt und nicht nur unbedingt die einzelne Handlung?

Richtig, ja.

Wir waren ja gerade schon bei Social Media. Es gibt ja Stalking und Cyberstalking. Was sieht da der konkrete Unterschied aus?

Sehr, sehr gute Frage. Gerade im heutigen Zeitalter haben wir ja ganz viele Mittel, Wege und Instrumente im Bereich “Cyber-” auch aktiv zu sein. Und es gibt heutzutage eigentlich kaum einen einzigen Fall, in dem nicht irgendwie auch entweder Social Media eine Rolle spielt oder digitale Möglichkeiten, beispielsweise Chats und E-Mails. Das ist ja alles auch digital. Und es gibt aktuell noch keine wirklich allgemeingültige Definition für die Unterscheidung. Damit es im Alltag und vor allem auch in der Stalking-Intervention und zum Erkennen überhaupt Sinn ergibt, würde ich sagen, kann man zum einen sagen, das normale oder analoge Stalking, das ist eben das Stalking, was überwiegend im echten Leben stattfindet und nur ganz wenig Cyber-Elemente drin hat. Und Cyberstalking, da haben wir aber überwiegend doch die mediale beziehungsweise die digitale Komponente drin. Beispielsweise die Influencerin, die erstmal Nachrichten bekommt, alles findet im Internet statt und dann gibt es Fake-Profile, dann gibt es komische Bewertungen, dann kriegt sie mit, irgendwie ist da ein Mensch, der ist mir auf den Fersen. Ich weiß entweder, wer es ist oder ich weiß es nicht, aber irgendwie ist der komplette Tatort im Internet. Und da würde ich sagen, das ist eindeutig Cyberstalking. Wenn wir aber sagen, es kommt beispielsweise aus einer Intimpartnerschaft, es hat eine Ehe gegeben, es gibt zwei Kinder, man begegnet sich ständig über die Kinder, man hat permanent auch persönlichen Kontakt, obwohl man es nicht mehr möchte, dann würde ich sagen, sprechen wir doch eher vom klassischen, herkömmlichen Stalking.

Wer übt überhaupt Stalking aus? Ist das bei analogem Stalking und Cyberstalking gleich?

Wir haben dazu aktuell noch keine Zahlen, also zumindest nicht von der polizeilichen Kriminalstatistik, zumindest sind sie mir nicht bekannt. Aber es geht auch gar nicht, weil wir haben jetzt gerade erst den Stalking-Paragrafen verändert, wo auch Cyberstalking unter Strafe steht. Das heißt also, es gibt noch keine Zahlen. Aber grundsätzlich kann man erst mal zum Thema Täter:innen sagen, dass die überwiegende Zahl von Tätern, Stalkern, erstmal männlich sind. Also das, was wir aktuell von den Zahlen wissen, ist, dass 80 % der Stalker männlich sind, 80 % der Betroffenen sind weiblich.

Also ist es doch schon ein sehr, sehr klares Verhältnis?

Ja.

Gibt es allgemeine Erfahrungen, die zum allgemeinen Begreifen von Stalking in diesem Zusammenhang relevant sind?

Ja, also ich finde, um das Thema Stalking wirklich zu verstehen, muss man unbedingt die Kriminalpsychologie verstanden haben. Zum einen ist es ja so, dass wir, gerade wenn wir uns die juristische Definition anschauen, natürlich erstmal von objektiven Tatsachen ausgehen. Also wann hat es den Kontaktabbruch gegeben, wie häufig sind die unerwünschten Kontakte, was sind die Auswirkungen dieser Handlungen? Das alles ist ja erstmal die objektive Ebene. Ich finde, wenn wir uns aber von außen genau mit dieser objektiven Ebene befassen und das alleine heranziehen, um Stalking zu verstehen, werden wir niemals verstanden haben, worum es geht. Weil eigentlich ist Stalking ein hochkomplexes und vor allem psychologisches Phänomen und um Stalking zu erkennen, müssen wir verstehen, dass es immer einen Täter gibt, der sich emotional, geistig und mental total auf sein Opfer fixiert hat und gleichzeitig so eine Obsession entwickelt. Also, emotional an dieses Opfer, an die Betroffene gebunden ist, dass man das fast schon mit einer Drogensucht vergleichen kann. Und wenn man das einmal verstanden hat, dann kann man auch bei ganz, ganz komplexen Sachverhalten, wo ganz viel durcheinander läuft und man wirklich erstmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, vielleicht auch in der Intervention, wo man von außen drauf guckt. Wenn man dann aber sieht, da gibt es eine Person, die ist ganz, ganz, ganz emotional und mega fixiert und da ist die eine Betroffene, dann können wir immer sagen, das ist 100 %ig Stalking, auch wenn wir es juristisch noch nicht feststellen können. Und auch um es abzugrenzen vom Phänomen Mobbing, was auch eine andere Kriminalpsychologie hat, dann haben wir Stalking verstanden. Also, wir haben immer einen Täter, der hat sich emotional und geistig total auf die Betroffene fixiert und ist emotional so involviert, dass er selbst auch aus dem ganzen Thema nicht mehr rauskommt.
Hast du die in diesem Interview besprochenen Erfahrungen in gleicher oder ähnlicher Form selbst gemacht – oder kennst eine akut betroffene Person? Dann wende dich gerne an die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen oder eine Beratungsstelle. Auf beiden Wegen kannst du dich jemandem (anonym) anvertrauen und Unterstützung finden.

In diesem Interview hast du eine Menge allgemeine Informationen erhalten, um Stalking besser zu verstehen und zu erkennen, ab wann alltägliche Handlungen womöglich Stalking sind. Wenn du mehr zum Thema Stalking erfahren möchtest, stehen dir hierzu in dieser Mediathek weitere Interviews und Beiträge zur Verfügung.
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.